Telefonseelsorge rät zu Nächstenliebe
Corona-Krise: mehr Ängste, mehr Kontrollzwänge, mehr Konflikte, mehr Einsamkeit
Die Telefonseelsorge hilft jeden Tag und bundesweit 24 Stunden lang. Geschulte Ehrenamtliche beraten telefonisch, per Chat oder Mail und in manchen Städten auch vor Ort. Die Telefonseelsorge ist in evangelischer und katholischer Trägerschaft. Gerade in der Corona-Krise rufen mehr Menschen an als sonst. Redakteurin Charlotte Mattes hat über die aktuelle Situation mit Dr. Christopher Linden gesprochen. Der Diplom-Psychologe und katholische Theologe ist Mitglied im Leitungsteam der Telefonseelsorge Mainz/Wiesbaden.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die Telefonseelsorge?
Christopher Linden: Es gibt zwei auffällige Beobachtungen: Es rufen 20 Prozent mehr Menschen an und der Anteil der Gespräche, die sich mit Corona beschäftigen, steigt. Am Anfang gingen bundesweit 5 Prozent der täglichen Gespräche um Corona und die Fragen dazu, mittlerweile hat es sich bei gut 40 Prozent eingependelt. Wir haben aktuell mehr Ehrenamtliche, die Schichten besetzen. Es gab einen richtigen Ruck, der durch die Mitarbeiterschaft ging, sodass wir sagen können: Die Leitungen sind gut versorgt. Trotzdem kommt nicht jeder gleich beim ersten Versuch durch.
Was sind Themen, die Anruferinnen und Anrufer gerade beschäftigen?
Christopher Linden: Ein Thema, das dazugehört, ist schlichtweg die Angst, sich anzustecken.
Es rufen auch Menschen an, die ohnehin ein hohes Maß an Angst in ihrem Leben haben. Hier können sich zum Beispiel Kontrollzwänge entwickeln. Sie vergewissern sich x-mal, dass sie oder der Partner nichts Falsches angefasst haben oder, dass sie sich genügend die Hände gewaschen haben. Das kann dann Beziehungen belasten, wenn einer ein viel höheres Bedürfnis an Sicherheit und Kontrolle hat als der andere. Der eine fühlt sich dann nicht ernst genommen und der andere fühlt sich gegängelt.
Viele Menschen arbeiten aktuell von zu Hause aus oder können wenig oder gar nicht mehr arbeiten, ist das auch Thema?
Christopher Linden: Es gibt Anrufer, die haben Angst zu verarmen oder den Arbeitsplatz zu verlieren oder die Wohnung nicht mehr bezahlen zu können.
Für viele ist es eine neue Situation ein Home-Office betreiben zu müssen. Teilweise dann noch mit Kindern zu Hause, das ist wirklich nicht leicht zu stemmen. Konflikte und Sorgen entstehen dann, weil Arbeitsaufträge mit Termindruck gemacht werden müssen und die Kinder aber gleichzeitig auch Aufmerksamkeit brauchen. Dann entsteht ein Riesendruck oder man kann sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Auch Eltern rufen an, die überfordert sind mit den Aufgaben, die von der Schule kommen. Thema ist aber auch, die Kinder den ganzen Tag zu Hause bei sich zu haben und gerade in den Städten nicht gute Möglichkeiten zu haben, die Kinder raus zu lassen. Da können Konflikte zu Hause auch eskalieren.
Was denken Sie, wie wird sich das weiter entwickeln?
Christopher Linden: Ich denke: Die existenziellen Sorgen werden zunehmen, wenn die Einschnitte in der ganzen Wirtschaft noch mehr spürbar werden. Und natürlich auch, wenn Menschen im Umfeld erkranken. Oder auch Sorgen sich nicht kümmern zu können, wenn jemand aus der eigenen Familie erkrankt.
Was bedrückt Menschen, die alleine leben?
Christopher Linden: Diese Menschen leiden unter der Kontaktsperre. Wir erleben, dass Menschen, die alleine wohnen, sich in ihren Ängsten allein gelassen fühlen. Sie haben in der Regel auch keinen Gesprächspartner, der direkt zur Verfügung steht. Sie steigern sich in die Ängste rein, gerade am Abend und in der Nacht werden sie größer. Da geht das Kopfkino los: Was kommt noch auf uns und mich zu? Stecke ich mich vielleicht doch an? Wer hilft mir, wenn ich Hilfe brauche? Die Ängste können dann grenzenlos werden. In so einer Situation tut ein Gesprächspartner gut, der geduldig ist, der aktiv zuhört und die Ängste ernst nimmt - denn so geschieht das Heilsame. Dem Anrufer wird zurückgespiegelt, was wir hören. So können sie wieder runter kommen. Auch die jüngeren Menschen sprechen über Einsamkeit, wenn sie anrufen, das sind nicht nur die älteren. Sie können nicht reisen und sich nicht mit anderen treffen. Sie fühlen sich dann in der Not, wie sie damit umgehen sollen.
Sie helfen per Telefon, können auch unsere Leserinnen und Leser aktiv helfen?
Christopher Linden: Es ist schon wichtig im Umfeld zu gucken: Wer lebt alleine und könnte Hilfe gebrauchen? Manchmal reicht ein Anruf und die Frage: „Wie geht es dir?“ In einem Mehrparteienhaus kann man auch Mal klopfen und fragen, ob ein Nachbar Hilfe braucht. Natürlich ist es hierbei wichtig, den nötigen Abstand einzuhalten. Es wäre großartig, wenn Menschen so aufeinander achten und diejenigen mitnehmen, die es jetzt deutlich schwerer haben. Zum Beispiel, weil sie nicht alleine einkaufen gehen können oder zu viel Angst davor haben.
Warum ist es gerade in der jetzigen Situation so wichtig, dass die Trägerin der Telefonseelsorge, die Kirche, für Menschen mit großen Sorgen da ist?
Christopher Linden: Im Grunde ist das für mein Empfinden der ureigenste Auftrag der Kirche da zu sein und ein Beziehungsangebot zu machen. Das ist die große Stärke der Kirche. Es ist sehr gut, dass die Kirchen das aufrechterhalten und finanzieren. Damit ermöglichen sie, dass Menschen 24 Stunden lang die Möglichkeit haben, einen Gesprächspartner zu finden.
zu den Seelsorge-Angeboten der EKHN
Nummern der Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222