Diskussion um Missbrauch
Missbrauch: Sexualisierter Gewalt stellen, Vorbeugung stärken
Zuletzt immer wieder in der öffentlichen Debatte: Das Thema Kirche und Missbrauch. Seit Wochen umstritten: Ein Gutachten im katholischen Bistum Köln, das Erzbischof Rainer Maria Woelki in Auftrag gab. Doch wie geht die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit dem Thema sexualisierte Gewalt um? Ein aktueller Überblick.
Sich dem Leid stellen, Vorbeugung stärken
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung bezeichnet es als „unabweisbare Verpflichtung“, sich dem „Schmerz und dem Leid der Menschen zu stellen, die in der Kirche unter sexualisierter Gewalt gelitten haben und immer noch leiden“. Es sei zentral, „das geschehene Unrecht anzuerkennen, Aufarbeitung zu ermöglichen, Leid lindern zu helfen und zugleich für die Prävention zu lernen und Konsequenzen zu ziehen“, so Jung auf der Tagung der Synode – dem Kirchenparlament – im November 2019 mit dem Schwerpunkt Missbrauch.
Seit über zehn Jahren ist Vorbeugung zentrales Thema
Nachdem im Jahr 2010 Betroffene bundesweit auf das Verschweigen sexualisierter Gewalt in kirchlichen Institutionen hingewiesen haben, hat die EKHN das Thema zu einem Schwerpunkt der Präventionsarbeit gemacht. Mittlerweile sind Vorbeugung und umfassende Schutzkonzepte in der EKHN fest etabliert. Betroffenen, die sich melden, wird individuell und unbürokratisch geholfen. Die Erfahrungen in der Aufarbeitung der Schicksale von Kindern in evangelischen Heimen prägen die Begleitung von Betroffenen sexualisierter Gewalt. Diese Ansätze sind zuletzt auch in den Aktionsplan der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegen sexualisierte Gewalt eingeflossen. Im Jahr 2010 hatte die EKHN unmittelbar reagiert, als sich im Zuge der damaligen Debatte um Missbrauch in der katholischen Kirche auch bei der EKHN vermehrt Betroffene meldeten. Daraufhin wurden konkrete Ansprechpartnerinnen und -partner für Opfer benannt.
Neues Gesetz schärft Regelungen nochmals
Seitdem wurden die Präventionsmaßnahmen in der EKHN immer wieder weiterentwickelt und verstärkt bis hin zu einem neuen Gewaltpräventions-Gesetz aus dem Jahr 2020. Darin sind bestehende Vorgaben zusammengefasst und nochmals geschärft worden, die bisher an verschiedenen Stellen im Regelwerk der Kirche auftauchten. Das Gesetz definiert unter anderem klare Standards zu verpflichtenden Schutzkonzepten in kirchlichen Einrichtungen, Verhaltensanforderungen an Haupt- und Ehrenamtliche, wie zum Beispiel ein Distanz- und Abstinenzgebot in besonderen Macht- und Vertrauensverhältnissen und bei besonderen Abhängigkeiten. In Hessen-Nassau werden Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs umgehend an die Staatsanwaltschaft weitergegeben - sofern die Opfer zustimmen.
70 Verdachtsfälle in Hessen-Nassau bekannt
Nach aktuellem Kenntnisstand haben sich seit Gründung der EKHN im Jahre 1947 bis heute 70 Verdachtsfälle ergeben, bei denen die Befürchtung bestand, dass Menschen im Bereich der EKHN Betroffene sexualisierter Gewalt sind. In dieser Gesamtzahl sind auch Fälle aus Heimen in evangelischer Trägerschaft enthalten. Dabei wurden in den vergangenen 74 Jahren insgesamt 20 Mal Pfarrer verdächtigt. Den Betroffenen wurde versucht gerecht zu werden, auch wenn in der Mehrzahl der Fälle keine Ermittlungen mehr geführt werden konnten, weil die Beschuldigten verstorben waren. Mehrere Verdachte haben sich als unbegründet erwiesen. Dreimal sind kirchliche Disziplinarverfahren eingeleitet worden, davor hatte es bereits 11 Disziplinarverfahren gegeben. In den anderen Fällen haben sich die Anschuldigungen gegen Erzieher, Ehrenamtliche oder Mitarbeitende im kirchenmusikalischen Bereich gerichtet. In Abstimmung mit den Betroffenen wurden Strafanzeigen erstattet. Die EKHN berät jeden Fall individuell und zahlt entstehende Behandlungskosten wie etwa Psychotherapie auch ohne Nachweis des Vorfalls unbürokratisch und schnell. Die EKHN sieht keine pauschalen Entschädigungen vor. Sobald die derzeit dem Betroffenenbeirat vorliegende Muster-Ordnung für eine Unabhängige Kommission vorliegt, wird sie auch in der EKHN eingerichtet werden.
Beteiligung an deutschlandweiter Untersuchung
Die EKHN beteiligt sich an der im vergangenen Jahr gestarteten wissenschaftlichen Aufarbeitung der EKD, die ein unabhängiges Forschungsteam mit der Untersuchung beauftragt hat. Die Veröffentlichung wird durch die Forscher und Forscherinnen erfolgen, ohne dass es hierzu einer Freigabe durch die EKD bedarf. Besonderer Wert wird bei der Untersuchung auf die Einbeziehung Betroffener gelegt.
Mehr zum Thema, Ansprechspersonen und Hilfsadressen:
https://www.ekhn.de/service/gegen-missbrauch-vorgehen.html